Patienten müssen Wandel mitgehen
10. Februar 2023
Medizinische Versorgung:
Hausärztin Dr. Rita Bangert-Semb setzt bei zunehmendem Fachkräftemangel auf Effizienzsteigerung durch Digitalisierung.
Fachkräftemangel ist ein Phänomen, von dem keine Branche verschont bleibt – auch der Medizinsektor nicht. Doch hier macht es sich besonders schmerzlich bemerkbar, wenn der Rückgang an Beschäftigten die Versorgung erschwert. Dass es in Neulußheim weniger Hausärzte gibt, hat bei einigen Menschen in der Gemeinde zu Sorgen und mitunter Unzufriedenheit geführt (wir berichteten).
Dr. Rita Bangert-Semb (Bild oben), die das Hausarzt-Zentrum in der Neuen Ortsmitte betreibt, und Bürgermeister Gunther Hoffmann halten in einem Pressegespräch die Versorgung der Neulußheimer trotz Praxisschließungen für durchaus gut, unterstreichen aber, dass sich auch die Patienten an die Situation anpassen müssten.
Dr. Rita Bangert-Semb kennt die Situation über die Grenzen der Region hinaus: Sie ist für den Hausärzteverband in der Landesärztekammer und im Notfallausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung (KBV) Baden-Württemberg.
„Wir haben in Baden-Württemberg etwa 4000 Hausärzte und hausärztlich tätige Internisten in eigener Praxis. Davon sind mehr als 2000 an der Altersgrenze.“ Wo sie ihre Tätigkeit einstellen, komme nichts nach.
Ersatz kaum zu finden Das gleiche Problem bestehe bei den Medizinischen Fachangestellten (MFA). Wenn sie durch Krankheit, Überforderung, Familiensituation oder Unzufriedenheit ausscheiden, könnten sie kaum ersetzt werden. Daher müssten die Ärzte ihre Beschäftigten gut behandeln, gut bezahlen
– und personalschonend arbeiten. „Dazu gehört, dass unser Personal auch mal Urlaub machen muss“, betont die Medizinerin. Es sei sehr schwer, wenn die halbe Mannschaft abwesend sei und die andere Hälfte arbeitet. „Wir haben festgestellt, dass es unheimlich wichtig ist, dass der Standort in Phasen gemeinsam in den Urlaub geht
und gemeinsam erfrischt wiederkommt“, sagt Bangert-Semb. Damit die Patienten in dieser Zeit nicht unversorgt sind, sei in ihrem Hausarzt-Zentrum, zu dem sechs Praxen gehören, immer der nächstgelegene Standort offen. Für Neulußheim heiße das: Ist dort geschlossen, ist immer Walldorf und St. Leon geöffnet.
Sind im Hausarzt-Zentrum Neulußheim von Dr. Rita Bangert-Semb für die Patienten da: Die Medizinischen Fachangestellten Natalie Gretz (stehend), Silvia Alle und Heike Rosenberger fungieren als erste Ansprechpartner in der Praxis.
Medizinische Versorgung: Hausärztin Dr. Rita Bangert-Semb setzt bei zunehmendem Fachkräftemangel auf Effizienzsteigerung durch Digitalisierung „Wir sagen drei Wochen vorher in Auslagen im Unternehmen an, wann Schließzeiten sind und haben sie immer tagesaktuell auf unserer Homepage.
Patienten könnten ihre Anliegen telefonisch auf dem Sprachbot hinterlassen und würden tagesgleich zurückgerufen. Dazu brauche der digitale Assistent Namen, Geburtsdatum und Versicherer zwecks Zuordnung. „Wir stellen fest, dass die meisten älteren Bürger das begreifen und auch befolgen“, berichtet Bangert-Semb.
Auf Wesentliches konzentrieren
Aufgrund des Rückgangs der Mediziner- und Praxenzahlen müssten sich die Ärzte auf ihre Aufgaben konzentrieren: „die primarärztliche Versorgung wohnortnah zu gewährleisten“. Das heiße laut Fachgesellschaft für Allgemeinmedizin, den „abwendbar gefährlichen Verlauf erkennen und abwenden“. Dr. Rita Bangert-Semb nennt als Beispiele akuten Blinddarm, Herzinfarkt, Schlaganfall. Dafür sei das schnelle Erkennen essenziell. In solchen Fällen sei es wichtig, dass Betroffene und Angehörige nicht auf einen Hausbesuch ihres Arztes oder ihrer Ärztin warten, sondern bei bestimmten Symptomen sofort die 112 wählen. Diese werden vom Sprachassistenten abgefragt, auf den die Mitarbeiterinnen immer ein Auge hätten.
Chance heißt Digitalisierung
Fast die Hälfte der behandelten Fälle fielen in die Rubrik Bagatelle, dennoch erwarteten die Patienten sofortige Behandlung, statt nach einem Termin zu fragen und so die Praxisbelastung zu entzerren. Die weitere große Aufgabe sei die Identifikation und Steuerung der Chroniker. Dafür gebe es Leitlinien und Programm der Krankenkassen. „Wenn wir da in
Zukunft nicht umfallen wollen, müssen wir alle Reserven nutzen, die wir haben – und das sind im Wesentlichen digitalisierte Reserven“, erklärt die erfahrene Hausärztin. In ihrem Hausarzt-Zentrum können sich die Patienten beispielsweise online auf der Homepage einen Termin holen. Davor ist ein Symptomchecker, damit das Team eine Ahnung davon bekommt, worum es geht.
Den Einwand, das sei eine zu hohe Hürde für ältere Patienten, lässt Bangert-Semb nicht gelten: Sie hätten während der Corona-Pandemie auch Termine im Impfzentrum vereinbaren können, wenn auch mit Unterstützung durch Familie, Freunden oder Nachbarn. „Wenn wir die Quote derer, die sich online anmelden, erhöhen können, hilft uns das sehr, weil die Intelligenz im Hintergrund entscheiden hilft, ob der Termin binnen 24 Stunden, in den nächste drei Tagen oder eben dann, wenn einer frei ist, liegen muss. „Das heißt, wir überlassen es nicht mehr dem Patienten zu entscheiden, wann er der Notfall ist“, ergänzt die Ärztin. Das habe den Vorteil, dass für die Zeit freigehalten wird, die wirklich drankommen müssen. Es werde mit Hochdruck daran gearbeitet, diese Auswahl immer feiner zu tunen.
Elektronisches Rezept kommt
Die Digitalisierung könne auch die Ausstellung von Rezepten effizienter machen. Ein elektronisches Rezept („eRezept“) könne – abhängig von bestimmten Bedingungen – in die digitale Patientenakte geschickt oder wie gewohnt in der Praxis abgeholt werden. Je nach individuellen Risikofaktoren könne auf die Anforderung statt des Rezepts auch ein Termin zur Blutabnahme als Antwort kommen, wenn ein Turnus das erforderlich macht. Sie ist sicher, dass sich die Variante durchsetzen wird.
Die Automatisierung sieht Dr. Rita Bangert-Semb als unerlässlich an angesichts der Zunahme der Patientenzahlen aufgrund der demografischen Entwicklung und des Rückgangs der Fachkräfte. Denn es gelte einen weiteren Aspekt zu berücksichtigen: 70 Prozent der Absolventen des Medizinstudiums seien Frauen. Nach ihrer Elternzeit kämen sie durchweg nicht in Vollzeit zurück – wofür die Praxischefin volles Verständnis hat.
Für Hochbetagte Hilfe organisieren
Für die hochbetagten Patienten, denen der Umgang mit digitalen Medien nicht mehr zuzumuten ist, müssten alle Ressourcen erschlossen werden, die eine Kommune hat, um ihnen zu helfen. Bangert-Semb bringt Patenschaften, Sozialstation oder Nachbarschaftshilfe ins Spiel – „alles, was geplant ist, um den Zusammenhalt zu stärken“. Von den 60- bis 80-Jährigen müsse man dagegen erwarten können, dass sie digitale Wege zur Behandlung gehen. Bürgermeister Gunther Hoffmann weist darauf hin, dass die medizinische Versorgungsdichte im Rhein-Neckar-Raum im Vergleich zu anderen Regionen nach wie vor sehr hoch sei. Den Weg nach Hockenheim, Schwetzingen oder Speyer hält er für zumutbar. Die Bürger seien sich des Fachkräftemangels noch nicht bewusst. Er unterstreicht, dass die Gemeinde in der Neuen Ortsmitte investiert habe, um der Praxis moderne Räumen vermieten zu können. Hier habe man umdenken müssen, um attraktiv für Mediziner zu bleiben. Rita Bangert-Semb hofft, dass die Patienten aufgrund besserer Einblicke in die Situation der medizinischen Versorgung eine andere Sichtweise auf die Arbeit ihrer Praxis gewinnen. Und vor allem ihren Ärger nicht an den Medizinischen Fachangestellten auslassen, die nichts dafür könnten. Zumal die Digitalisierung auch Vorteile bringe. Die telefonische Erreichbarkeit sei durch den Sprachbot besser geworden: „Früher mussten die Patienten viel öfter anrufen, bis sie durchgekommen sind.“ Und die Wartezeit für die meisten Patienten laut Praxisstatistik bei elf Minuten liege.